Meisterzwang adé

Waren es früher nur die fahrenden Zimmerleute, die unter dem Vorwand der nützlichen handwerklichen Tätigkeit Kost und Logis erschnorrten, so wälzen sich derzeit millionenköpfige Drückerkolonnen von Ich- AGs kreuz und quer, waagerecht und senkrecht durch das Land. Und wenn es der Ortsvorsteher ver- säumt, rechtzeitig die Durchgangsstraßen hochzuklappen und die freiwillige Bürgerwehr in Alarmzu- stand zu versetzen, so kann es geschehen, daß der unbescholtene Bürger durch ein Verkaufsgespräch überwältigt wird und ihm nacheinander das Haupthaar gestutzt, eine Biotherme installiert, das Wohn- zimmer mit Brokat tapeziert, die Besenkammer mit einem 24-armigen Kronleuchter verziert, die Klo- schüssel ans Internet angeschlossen und im Zuge einer Schönheitsoperation eine Niere entfernt wird.

"Man muß nichts können, man muß nur wollen", mit diesem, dem westdeutschen Wirtschaftswunder entlehnten Motto hatte Helmut Kohl 1982 seine Regentschaft angetreten und war unübersehbar selbst mit gutem Beispiel vorangegangen. Seither wurde sein Wahlspruch mutig in die Tat und die alte Volksweisheit "Es ist noch kein Stümper vom Himmel gefallen" in einen Straftatbestand umgesetzt.

Vorreiter dieser Aufbruchsbewegung waren und sind neben stotternden Moderatoren vor allem Politiker und ähnliche Kleindarsteller: Eine Hilfsschullehrerin bestimmt unser Gesundheitssystem, ein Deutsch- lehrer unsere Finanzen, ein Theologe (da hilft nur noch beten!) unseren Verkehr und ein Taxifahrer unsere Außenpolitik. Jeder kann in der Politik alles werden, Hauptsache, er beherrscht es nicht und verdirbt nicht mit Fachwissen die Norm.

Deutschland einig Dilettantenland! Einzig die Handwerker tanzten bislang aus der Reihe: Bevor sie überhaupt einen Handschlag tun durften, mußten sie endlose Zeit als Lehrlinge und Gesellen vergeuden. Bis zur Verblödungsgrenze lernten sie, Pfusch zu vermeiden, den doch sowieso kein Kunde bemerkt bzw. gegen den er sowieso nichts machen kann.

Doch damit ist jetzt Schluß: Wer nichts gelernt und davon die Hälfte schon wieder vergessen hat, ist künftig nicht mehr auf einen Job in der Fernsehunterhaltung oder in der Politik angewiesen, sondern er kann dem Bedürfnis nach einer handwerklichen Tätigkeit nachgehen, einem Urtrieb des deutschen Volkes. Dies zeigt sich zum Beispiel an Ausrufen wie "Ist dein Vater Glaser?", "Wieso erzählst du das nicht deinem Frisör?" oder "Schuster, bleib bei deinen Leisten".

Künftig braucht ein Beckenbauer kein Keramikstudium und ein Bohlen keinen Holzverarbeitungs- abschluß für Bretter vor dem Kopf mehr. Kassieren geht schließlich auch ohne Ausbildung.

Restbedenken bei einigen Berufen scheinen unbegründet. Was etwa ein Fleischer an Hygiene beachten muß, also hinterher die Hände an der Tischdecke abwischen, dürfte er schon als guter deutscher Junge gelernt haben, und gegen etwaige Infektionen durch Ungeziefer kann er sich ja impfen lassen.

Ebenso wird sich ein Installateur beim versehentlichen Anbohren einer Gas- oder Wasserleitung rechtzeitig in Sicherheit bringen, und ein Automechaniker braucht lediglich eine gute Haftpflichtver- sicherung. Die Regierung verspricht sich von der Abschaffung des Meisterzwangs nur Vorteile: Durch einen rapiden Rückgang des Lehrstellenmangels würde der Lehrstellenmangel behoben, und durch eine Flut neuer Ich-AGs die Arbeitslosenzahl zurückgehen.

Zudem wird dadurch auch die Schwarzarbeit bekämpft. Bisher war es Usus, daß der nette Nachbar der Oma den Fernseher richtig einstellte und sie ihm dafür einen Kuchen gebacken hat. Jetzt macht er sich als Informationstechniker und sie sich als Bäckerin selbstständig, und beide zahlen Steuern. Ebenso im Haushalt: Während bisher die Frau kochte und der Mann den Tisch deckte, betreiben nun zwei Ich-AGs als Köchin und Kellner steuerpflichtige Gewerbe. Ebenso gilt künftig Staubsaugen als Hausreinigung und Mülleimer runterbringen als Kurierdienst. Die Fahrt zu Aldi wird zum Kleintransport, und selbst die Antwort auf die Frage nach der Uhrzeit wird zur gewerbsmäßigen Tätigkeit einer Auskunftei. Sollte sich die Neuerung bewähren, so ist rechtzeitig zum Wahlkampf 2006 die Abschaffung sämtlicher Ausbildungen geplant.

Einmal abgesehen davon, daß es zeit-ökonomischer und ohnehin insgesamt billiger ist, sich den Titel eines Meisters, eines Diplomingenieurs oder eines Juraprofessors zu kaufen als ihn konventionell zu erwerben, könnte man damit auch den Bildungsnotsand in den Griff bekommen.

Unsere Vorfahren konnten sich ohne fremde Hilfe wochenlang auf Bäumen bewegen, die alten Römer fließend Lateinisch sprechen und noch unsere Urgroßeltern Pferde beschlagen und Elche erwürgen. Dies alles aber wurde durch den technischen Fortschritt irgendwann überflüssig.

Nicht anders verhält es sich mit einigen skurrilen Fähigkeiten, die einige unserer Mitbürger aus der grauen Vorzeit bis in die moderne Gegenwart gerettet haben, nämlich mit dem Lesen und Schreiben. Noch heute werden in den Redaktionen von VIVA oder RTL 2 bunte Abende abgehalten, auf denen ältere Mitarbeiter den staunenden Moderatoren das Kleine Einmaleins oder einen Vierzeiler deklamieren. Im Alltag allerdings werden diese Kenntnisse zusehends nutzlos, auch für die berufliche Qualifizierung. Wozu haben wir denn die modernen Medien?

Können sich die Ärzte nicht durch "Praxis Bülowbogen" selbst ausbilden, die Anwälte durch "Ein Fall für Zwei" und die Ingenieure durch die "Hobbythek" von Jean Pütz? Und lernt man nicht durch das intensive Studium von "Marienhof" und "Verbotene Liebe", wie man eine Traumkarriere als ModedesignerIn, WerbetexterIn, BauunternehmerIn, ZeitungsverlegerIn oder WirtschaftsjuristIn hinlegt, obwohl man nicht einmal zwei Sätze ohne Verhaspler stammeln kann?

In diesem Sinne ist die Abschaffung des Meisterzwangs zwar nur ein kleiner Schnitt für den ungelernten Friseur, aber ein Riesenschritt für die Menschheit. Jedenfalls die PISA-geprüfte.
© Eulenspiegel 11/03

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