Tüftler vom Dienst


Über England oder doch lieber über Norwegen? Das ist nur eine von vielen Entscheidungen, die Dispatcher Lars Neven an einem sonnigen Donnerstagmorgen innerhalb kürzester Zeit für LH456 von Frankfurt nach Los Angeles zu fällen hat. Ihm und seinen Kollegen obliegt es, tagtäglich Piloten mit Briefing- unterlagen für sämtliche Flüge im Passage-Streckennetz und von Kundenairlines zu versorgen. Und trotz modernster Computer- technik ist immer noch gutes altes Navigationshandwerk gefragt, wenn es für insgesamt 38 vom Luftfahrt-Bundesamt (LBA) lizenzierten Dispatcher im Schichtdienst gilt, rund um die Uhr die richtigen Flugpläne auszutüfteln.

entnommen aus LH's Flighcrew Info 3/2007 © Klaus Pokorny

"Eigentlich stimmt es ja, daß wir vor allem auf der Langstrecke die jeweilige Route wie in Puzzle zusammenbasteln", schmunzelt Lars Neven, nur um gleich wieder konzentriert auf einen seiner insgesamt vier Bildschirme zu blicken, die im Halbkreis vor ihm thronen.
Das ist auch nötig, schließlich wird er in der kommenden Dreiviertelstunde für die 'Victor Sierra', eine Boeing 747-400, eine Strecke von knapp 5166 nau- tischen Meilen als LH456 von Frankfurt nach Los Angeles sorgfältig planen. Trotz einer einjährigen Ausbildung, die einem angehenden Dispatcher das gleiche theoretische Rüstzeug für Navigation und Meteorologie wie einem Lufthansa-Piloten vermittelt, erweist sich hierbei vor allem eines als unverzichtbares Werkzeug: Das "Lido Operations Center (OC)" mit seinen Berechnungsformeln und seiner Navigationsdatenbank, das alle weltweit verfügbaren Luftver- kehrsdaten bündelt, wie zum Beispiel Wetterverhältnisse oder aktuelle aeronautische Einschränkungen.

Ein wichtiger Eckwert für Nevens Berechnung ist das ange- nommene 'Zero-Fuel-Weight' - das Gewicht des Jumbos ohne Sprit. Der Weg dorthin führt über das 'Dry Operating Weight' der 'Victor Sierra' von 187,93 Tonnen. Dieses setzt sich aus dem Flugzeuggewicht und einem Durchschnittswert für Catering und Crew aber ohne Passagiere, Gepäck und Fracht zusammen. Als nächstes summiert Lido dank bewährter Formeln 286 gebuchte Passagiere, Koffer, und geplante Fracht auf knappe 41 Tonnen - und fertig ist ein Zero-Fuel-Weight in Höhe von knapp 229 Tonnen.

Weiter geht‘s mit der Berechnung eines 'Minimum Fuel Check': "Hierdurch erhalte ich diejenige Strecke und Reisegeschwindig- keit, die beide zusammen den geringsten Triebstoffverbrauch versprechen. Das richtige 'Tempo' für einen möglichst Treibstoff sparenden Flug unter Beibehal- tung einer zeitigen Ankunft in Los Angeles wird dabei anhand eines vom Flottenmanagement vorge- gebenen 'Cost-Index', ermittelt. Doch Treibstoffkosten sind nur die halbe Miete: "Zusätzlich führe ich den 'Minimum Cost Check' durch, der die Überfluggebühren der auf Strecke liegenden Staaten in die Berechnungen mit einfließen läßt", so Neven. Gesagt, getan, und schon gestaltet sich die Lage ein wenig anders: "Über England den europäischen Luftraum zu verlassen ist zwar schneller - aber unter Einbeziehung der Überflug- kosten unterm Strich teurer." Neven überlegt kurz und ent- schließt sich für eine nördlichere Route über Südnorwegen und Island. Die Gesamtflugzeit verlängere sich zwar um drei Minuten auf 10:32 Stunden, doch aufgrund einer 'Average Wind Component' von 17 Knoten Rückenwind während des gesamten Fluges komme LH456 insgesamt früher als geplant an: "Unter diesen Bedingungen würde der Zeitgewinn nicht die anfallenden Zusatzkosten

rechtfertigen", begründet er seine Wahl. Anders als die Langstrecke werden Flüge bis zu rund zwei Stunden Flugzeit bereits durch Lido OC komplett durchgerechnet: "Innerhalb Europas gibt es für alle Routen feststehende 'Rules' hinsichtlich Streckenführung oder Flughöhe, die wir bereits im Lido OC-System hinterlegt haben, wodurch wir sehr effizient eine Vielzahl an Flügen mit nötigen Unterlagen versorgen können", verrät Neven. Flugwege werden dabei nach den Kriterien Zeit, Kosten oder Entfernung unter Berücksichtigung flugbezogener Informationen wie beispielsweise Wetterdaten und aller aktuellen aeronautischen Einschränkungen zusammengestellt. Trotz dieses Automatismus habe ein Dispat- cher ein jederzeit wachsames Auge auf das Kurzstreckenge- schehen: "Diskrepanzen werden farbig hinterlegt und uns auto- matisch zur Anzeige gebracht", erklärt er. Grün zum Beispiel stünde für eine signifikante Gewichtsänderung, lila hingegen für eine Warnung: "Da hat das System etwas gefunden, was ihm, salopp gesagt, nicht paßt, und darauf reagieren wir natürlich sofort."

Einer dieser Kandidaten ist LH3182 nach Moskau, der auf einmal Übergewicht zu haben scheint: "Stimmt", bestätigt Neven, "das Landegewicht wäre zu hoch und im schlimmsten Fall müssen Passagiere oder Gepäck wieder abgeladen werden", schildert Neven das, wie er sagt, "Worst Case-Szenario", während er parallel zu LH456 bereits an der Problemlösung arbeitet. Unter Umständen gibt es näher gelegene Ausweichflughäfen als Helsinki und Sankt Petersburg, was die zu tankende Kerosin- menge und damit das Gewicht von LH3182 reduzieren würde. Und tatsächlich: "45 Kilometer südlich von Moskau bietet sich
mit dem 'International Airport Domodedovo' eine wesentlich näher gelegene Alternative, die den Anforderungen des Lufthansa-Flugbetriebes genügt", erklärt Neven. Auf diese Weise vermag LH3182 2,3 Tonnen Sprit einzusparen, sofern die Cockpitbesatzung die Wahl des Ausweichflughafens akzeptiert.

Um generell kurzfristig drohenden Verspätungen Einhalt zu gebieten, tritt ein Dispatcher auch als 'Slot-Coordinator' in Erscheinung. Aktueller Kandidat ist LH4540 von München nach Lissabon, die durch die Flugsicherung aufgrund einer Luftraumsperrung über der Schweiz eine um 40 Minuten spätere Abflugzeit zugewiesen bekommen hat. "Mein Kollege Stefan Bünzow versucht nun, die ursprüngliche Route so umzugestalten, daß die Maschine den betroffenen Luftraum meidet und München gegebenenfalls noch pünktlich verlassen kann", erklärt Neven. Einziger Schön- heitsfehler: Die reine Flugzeit würde sich um 15 Minuten verlängern und, neben höheren Treibstoffkosten, höhere Überfluggebühren durch eine veränderte Streckenführung verursachen. Nun gilt es abzuwägen, was wichtiger ist: Pünktlichkeit, wenn etwa viele Umsteiger an Bord sind oder die anfallenden Zusalzkosten. In diesem Fall würde die Treibstoffmenge der A321 für einen längeren Flug nicht ausreichen. Eine Ausnahme, betrachtet man das bisherige 'Slotmanagement' an diesem Morgen: "150 Minuten an drohenden Verspätungen konnten wir vermeiden." So wie bei LH3070 nach Kopenhagen, als Bünzow übers Telefon bei Eurocontrol in Brüssel unbürokratisch schnell den Slot um wertvolle zehn Minuten 'strecken' konnte - und dem Flug so eine Verspätung von fast vierzig Minuten ersparte. Zurück zu LH456, dessen Streckenplanung mittlerweile den Atlantik erreicht hat. Über dem Ozean genießt Lars Neven weitaus weniger gestalterische Freiheit,

legen doch amerikanische, irische und kanadische Flugsicherung jeden Tag in Abstimmung mit den Fluggesell- schaften so genannte 'West- bound-Tracks' fest Diese parallel verlaufenden Routen dienen dem Zweck, den Interkontinental- verkehr über dem Atlantik in beide Flugrichtungen zu entzerren. LH456, soviel steht schon fest, wird keine dieser "Autobahnen" nutzen: "Wir dürfen nach Bedarf nördlich oder südlich der Tracks fliegen, sie aber nicht in der Höhe kreuzen, in welcher der geordnete Verkehr stattfindet", erklärt Neven. Tracks gibt es auch für das Streckenteilstück, das durch den kanadischen Luftraum führt. Eine wiederholte Einschränkung seines Aktionsradius, die allerdings bei Eintritt des US-Luftraumes endet.

Bei alledem verliert Lars Neven nie die in Lido hinterlegten 'Notice to Airmen' (Notam) aus den Augen, die ihm verraten, ob an Flughäfen oder irgendwo entlang der Strecke Restriktionen auf LH456 lauern. So könnten aufgrund militärischer Aktivitäten einzelne Luftkorridore gesperrt sein, was sich auf die Strecken- führung auswirken würde. Oder eine Runway in Frankfurt beziehungsweise Los Angeles nur verkürzt nutzbar sein: "Das müssten wir in jedem Fall beim Abfluggewicht mit berücksichtigen" betont Neven. Gleiches gilt für Wind & Wetter: "Lido schlägt für den Start in Frankfurt Runway 25R in Richtung Westen vor, wodurch LH456 aufgrund aktualisierter Wetter- verhältnisse allerdings bei Rückenwind starten würde: "Deshalb gebe ich mit 07L die Gegenrichtung ein." Bei Ankunft in Los Angeles wird der 'Sunshine-State' Kalifornien seinem Namen alle Ehre machen: "Sonnenschein und nur ein laues Lüftchen - da werde ich für den Anflug nichts ändern."

Nach weiterer sorgfältiger Planung bis hin zur Landung an der Westküstenmetropole steht am Ende die Route, so daß Lars Neven nun genau ermitteln kann, wie viel Treibstoff die Victor Sierra letztendlich benötigt: "107 Tonnen für die Strecke selbst, allerdings müssen wir 11 Tonnen für eventuelle Unwägbarkeiten und den Ausweichflughafen 'LA. Ontario International Airport' addieren." Erst mit einer Empfehlung einer Mindestkraft- stoffmenge von 118 Tonnen Sprit entspricht LH456 den Anforde- rungen des Lufttahrt-Bundes- amtes (LBA) sowie dem 'Operations Manual A' (OM-A) der Lufthansa und überschreitet damit nicht das maximal erlaubte Start- und das spätere Landegewicht in Los Angeles von 396 bzw. 285 Tonnen. "Die genaue Betankungsmenge unter Einbe- ziehung aller Unwägbarkeiten legt in jedem Fall die Cockpit-Crew von LH456 fest", betont Neven. Mit der Treibstoffberechnung als krönenden Abschluß ist es also vollbracht: "Jetzt muß ich nur das gesamte Briefingpaket 'fesfzurren', im System freischalten und die Streckenführung an alle Flugsicherungen schicken, deren Luftraum betroffen ist", schließt Neven seine Arbeit für diesen Flug ab. Und während der Kapitän das Datenbündel auf sein Pilot Work- Pad lädt und die Empfehlungen des Dispatchers gründlich überprüft, konzentriert Neven sich an diesem arbeitsreichen Morgen bereits auf den nächsten Langstreckenflieger. Schließlich will zur Mittagszeit auch LH760 auf 'bestem Wege' an ihr Ziel in Neu-Delhi gelangen. Dabei wird der Rückflug von Indien nach Deutschland erstaunlicherweise von den Kollegen in Hongkong, HKG 0110, durchgeplant: "Eine historisch gewachsene Besonderheit, mit der wir einen direkteren Draht zu allen asiatischen Flugsicherungen haben", bemerkt Neven abschließend, bevor er sich wieder in seine Arbeit vertieft.

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